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Das höchste Gerich

CARO/Westermann / BEW/Ullstein
Polen haben über 34.000 Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof in Straßburg eingereicht. Anhand der Beschwerden wird deutlich, wo es zwischen Bürger und Staat die meisten Reibungen gibt: im Gericht, im Gefängnis, bei Fragen der Meinungsfreiheit und übermäßigen ideologischen Druckes.

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Die Antwort auf diese Frage bringt der Fall Urban gegen Polen, über den der Gerichtshof die polnische Regierung in den letzten Tagen in Kenntnis gesetzt hat. Das bedeutet, dass die Beschwerde eingegangen ist und geprüft wird. Es geht dabei um Jerzy Urbans Feuilleton ‚Herumkutschiertes Sado-Maso’ von 2002 über die päpstlichen Pilgerfahrten. Die Sache schien fast vergessen, aber damit eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof eingereicht werden kann, muss man zunächst den innerstaatlichen Instanzenzug durchlaufen haben. Deshalb gibt es in vielen großen Streitfällen erst nach Jahren eine Pointe in Gestalt eines Straßburger Urteils. Ähnlich wird es im Fall Andrzej Lepper sein, der 2001 von polnischen Gerichten wegen Diffamierung von Politikern verklagt wurde. Ebenso sieht es im Fall Dr. Mirosław Garlicki  [der Kardiochirurge soll in 50 Fällen Schmiergelder von Patienten angenommen und wurde 2007 deswegen verhaftet. Seither klagt er u.a. wegen Rufmord, Anm. d. Red.]  oder Anna Gąsior aus, letztere war wegen Verleumdung von Zbigniew Wassermann verklagt worden.

Klone gegen Polen

Die absolute Nummer eins auf der Liste polnischer Beschwerden in Straßburg ist jedoch das Recht auf einen anständigen Prozess. Polen wurde verklagt in Fragen der Verfügbarkeit von Amtsverteidigern, zu hoher Gerichtsgebühren, aber vor allem wegen langer Verfahrensdauer. Es wurden Fälle in Straßburg eingereicht, deren Bearbeitung sich in polnischen Gerichten über 20 Jahren hinzog. Sie wurden reihenweise verloren und es mussten hohe Entschädigungen gezahlt werden. Deshalb wurde 2004 ein Gesetz verabschiedet, das Klagen wegen langer Verfahrensdauer im Inland gestattet. Dieses Mittel war zu Beginn nicht sehr wirksam, weil die Gerichte zwar den Klägern Recht gaben, aber keine Entschädigungszahlungen verhängten. Erst nach mehreren Urteilen in Straßburg hat sich das geändert.

„Wir haben es hier mit dem klassischen Beispiel eines so genannten ‚Klon-Falls’ zu tun, also einem, von denen der Gerichtshof sagt, dass er kein Einzelfall eines Verstoßes gegen die Konvention ist, sondern ein Systemfehler, den es durch Gesetzesänderungen zu berichtigen gilt“, erklärt Adam Bondar, Sekretär der Helsinki Stiftung für Menschenrechte. „So war es beispielsweise im Fall der Rückgewinnung von Besitz in den ehemaligen polnischen Ostgebieten.“ 

Der letzte Klon-Fall Kauczor gegen Polen, geschlossen im Februar vergangen Jahres, betraf den Missbrauch der Untersuchungshaft. 2007 hat der Gerichtshof eine Verletzung der Konvention in 32 Fällen dieser Art festgestellt, 2008 in 33, wobei die Regierung von weiteren 90 in Kenntnis gesetzt wurde. Der Fall Adam Kauczor war ein Rekord: Der des Mordes und des illegalen Waffenbesitzes Verdächtige saß fast 8 Jahre in Untersuchungshaft. Der Gerichtshof sprach ihm 10.000 Euro Entschädigung zu und stellte im Urteil fest, dass das Problem strukturellen Charakter hat. 

Zu einem weiteren Klon-Fall könnte die Lustration  [Lat. "Durchleuchtung".  Hier geht es um die Frage ob jemand in der Volksrepublik Polen als IM für den Geheimdienst SB gearbeitet hat, Anm. d. Red.]   werden. Sechs Fälle hat Polen bereits verloren, über weitere fünf wurde die Regierung in Kenntnis gesetzt. In Straßburg haben unter anderem eine suspendierte Richterin, ein Richter, dem die Rente entzogen wurde und ein Kandidat für das Europäische Parlament Beschwerde eingelegt. Jedes Mal entschied der Gerichtshof, dass in den Lustrations-Prozessen gegen das Prinzip der Waffengleichheit verstoßen wurde. Der eingeschränkte Zugang zu Geheimakten garantierte den Angeklagten kein hinreichendes Recht auf Verteidigung. „Die Liste solcher Fälle wird immer länger und die polnische Regierung ignoriert bisher die Straßburger Urteile. Die Vorgehensweisen bei den Lustrations-Prozessen haben sich nicht geändert und das bedeutet, dass jeder, der nach einem abgeschlossenen Verfahren im Inland Klage in Straßburg einlegt, den Fall bereits gewonnen hat“, sagt Paweł Osik vom Team für Menschenrechte und Vergangenheitsaufarbeitung in der Helsinki-Stiftung. 

Strafgefangene gegen Polen

Kürzlich wurde viel über den Fall Paweł J. gesprochen, ein Strafgefangener, dem das Recht auf Eheschließung abgesprochen wurde. „Die Beziehung hatte auf illegale Weise – mittels chiffrierter Botschaften – begonnen und sich entwickelt, und sie verdient im Hinblick auf die gesellschaftliche Rehabilitation von Verurteilten keinen rechtlichen Schutz“, befand die Gefängnisleitung. Sämtliche Berufungen fruchteten nicht, deshalb legte Paweł J. in Straßburg Beschwerde ein und gewann. Der Gerichtshof ermahnte Polen, ein Gefängnis nicht gleichzusetzen ist mit Entzug der grundlegenden Menschen- und freiheitlichen Rechte; und eine Heirat könne nur aus Gründen verweigert werden, die im Familienrecht genannt werden.

In Straßburg haben schon Gefängnisinsassen gewonnen, die wegen Haftbedingungen wie Überbelegung, schlechten Zugang zu medizinischen Leistungen und erniedrigende Behandlung geklagt hatten. Es hat bereits ein Gefangener Recht bekommen, dem man Hafturlaub für die Beerdigung seines Vaters verweigert hatte, auch ein anderer, dem die Gefängnisaufseher gestatteten, an den Wahlen teilzunehmen, unter der Bedingung, dass er sich nackt auszöge. Das schwerste Kaliber war der Fall Dzieciak gegen Polen, weil der Artikel 2 der Konvention nicht eingehalten wurde: das Recht auf Leben. Als Zbigniew Dzieciak inhaftiert war, hat das Krankenhaus ihm drei Mal für eine lebensrettende Operation einen Termin gegeben. Der Gefangene hatte, statt den Termin wahrzunehmen, an der Verhandlung teilgenommen. Beim dritten Mal legte der Staatsanwalt den Brief mit dem geplanten Datum für den Eingriff in seinen Akten ab und die Korrespondenz gelangte so erst nach dem Termin in die Haftanstalt. Der Mann verstarb. Der Gerichtshof hat nicht nur der Ehefrau eine Entschädigung zugesprochen, sondern auch festgestellt, das Polen nicht in der Lage war, in dieser Angelegenheit effektive Ermittlungen durchzuführen.

„Natürlich ist das Gefängnis kein Sanatorium, aber es gibt eine Grenze zwischen einer Freiheitsstrafe und der Behandlung von Strafgefangenen wie Untermenschen ohne jegliche Rechte. Bei uns wird diese Grenze allzu oft überschritten“, sagt die Anwältin Monika Gąsiorowska, die an mehreren Dutzend Prozessen vor dem Europäischen Gerichtshof teilgenommen hat. Polen klagen in Straßburg auch die Brutalität der Polizei ein. 2007 hat der Gerichtshof befunden, dass Polen gegen das Folterverbot verstoßen hat. In einer Juninacht in Marki bei Warschau trank Dariusz Dzwonkowski mit seinen Kumpels vor einem Lebensmittelgeschäft Alkohol. Sie verhielten sich laut, jemand rief die Polizei. Die Beamten legten die Männer in Handschellen und befahlen ihnen, sich auf den Boden zu legen. Dzwonkowski leistete Widerstand. Er behauptet, die Polizisten hätten ihn geschlagen. Die Polizisten hingegen behaupten, er hätte sich selbst geschlagen, also absichtlich seinen Kopf gegen die Bordsteinkante gestoßen. Der Staatsanwalt hatte der Version Glauben geschenkt, dass Dzwonkowski sich selbst den Arm und den Unterkiefer gebrochen und die Augenhöhlenfraktur zugefügt hatte. Dzwonkowski klagte in Strassburg und bekam 10.000 Euro. 

Vor dem Europäischen Gerichtshof haben auch Breslauer Hausbesetzer gewonnen, die um drei Uhr morgens von der Polizei überrascht worden waren, welche klären wollte, warum vor dem besetzten Haus ein unverschlossenes Auto stand (der Fall Rachwalski und Ferenc gegen Polen). Die Polizisten befahlen allen, sich an die Wand zu stellen, sie beschimpften sie als Gesindel, Dreckfinken und Schwuchteln, zwei Personen wurden geschlagen, das Gebäude wurde ohne Durchsuchungsbescheid durchsucht. Die Staatsanwaltschaft in Polen befand, dass das Vorgehen der Polizisten berechtigt war. Laut dem Europäischen Gerichtshof hat Polen gegen das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung sowie gegen das Recht auf Respektierung der Privatsphäre verstoßen. Ein besetztes Haus ist ebenfalls ein Zuhause, was auch immer die Polizei darüber denken mag.

Das Wort gegen Polen

Das letzte Urteil zum Artikel 10 der Konvention über die Meinungs- und Pressefreiheit betrifft eine Trickfilmfigur: den Hund Reksio. Die Klage wurde vor 10 Jahren eingereicht. Damals machte die Firma Star Foods eine aggressive Werbekampagne für Chips, in der sie auf die Verpackungen Aufkleber mit kontroversen Sprüchen klebte. Einer davon verkündete, Reksio sei ein Mörder. ‚Angorka’, die Beilage für Kinder im Wochenblatt ‚Angora’, druckte damals eine Illustration ab, auf der ein Junge zu Reksio sagt: „Mach dir nichts draus, ich würde auch zum Mörder werden, wenn ich dieses Mistzeug essen würde.“ Der Firma Star Foods hatte das „Mistzeug“ nicht gefallen, und die polnischen Gerichte bestätigten, dass die Zeitung den guten Namen der Firma beschmutzt habe. Der Gerichtshof jedoch befand, dass, da die Kampagne an Kinder gerichtet war und keine kindgerechten Inhalte verbreitete, dies zu einer gesellschaftlichen Angelegenheit geworden war, und in diesem Falle die Medien das Recht zu Übertreibung und Provokation hätten. 

Das ist bereits der zweite Prozess, den ‚Angora’  in Straßburg gewonnen hat. Der vorherige betraf die Entführung der Tochter des ehemaligen Sejmmarschalls Maciej Kern. ‚Angora’ hatte geschrieben, dass er in dieser Sache seine Position missbraucht und den Medien erlogene Informationen geliefert hatte. Die polnische Rechtsprechung hielt dies für Diffamierung, Straßburg aber für eine zulässige Stimme in einer öffentlichen Debatte. Ein Präzedenzfall war auch das Urteil aus dem vergangen Jahr im Fall Wojtas-Kaleta gegen Polen. Die Journalistin der Breslauer Abteilung des Fernsehsenders TVP Helena Wojtas-Kaleta kritisierte in der Gazeta Wyborcza die Entscheidung darüber, zwei Sendungen über klassische Musik aus dem Programm zu nehmen und unterschrieb einen offenen Brief gegen den Austausch von Kultur durch „pseudomusikalischem Kitsch“. Von der Leitung des Fernsehsenders wurde sie wegen Verletzung des guten Namens ihres Arbeitgebers getadelt, die Gerichte stimmten mit dieser Haltung in beiden Instanzen überein: Die Journalistin habe sich illoyal verhalten. Nach Meinung des Gerichtshofes, sind Journalisten von der Pflicht zur Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber entbunden, weil es das Wesen ihres Berufes ist, Informationen an die Öffentlichkeit zu bringen. Sie haben also nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, Angelegenheiten von öffentlicher Bedeutung zu kommentieren. Straßburg befand auch, dass wenn sich das Land für den Aufbau eines öffentlichen Mediensystems entschieden hat, es in diesem System Meinungspluralismus garantieren muss.

„Polen verliert normalerweise in Straßburg Fälle, die die Meinungsfreiheit betreffen. Das Problem ist das bei uns geltende Recht, konkret Artikel 212 des Strafgesetzbuches, nach dem für die Verleumdung von Personen oder Institutionen Freiheitsstrafe droht“, sagt Dominika Bychawska vom Observatorium für Medienfreiheit. Ein in solchen Fällen Verdächtiger wird wie ein Schwerverbrecher behandelt. Die Polizei nimmt Fingerabdrücke, macht Fotos für die Datenbank, kann Hausdurchsuchungen vornehmen (kürzlich haben wir zu diesen Thema einen Bericht von Bianka Mikołajewska abgedruckt: POLITYKA 41/09). „In einem der Urteile hat der Gerichtshof zwar nicht direkt gesagt, dass der Artikel 212 der Konvention widerspricht, aber er befand, dass er unverhältnismäßig heftig sei, der Beruf des Journalisten aber Schutz verlange. Leider ziehen die polnischen Gerichte aus diesem Urteil keine Konsequenzen“, fügt Bychawska hinzu. 

In Polen hat sich die Überzeugung verbreitet, dass Politiker besonderen Schutzes vor Diffamierung bedürfen, während dies in der europäischen Praxis genau entgegengesetzt gehandhabt wird: Bei Politikern ist mehr erlaubt. Deshalb wird das Urteil im Fall Andrzej Lepper, der von der Rednertribüne im Sejm mehrere bekannte Politiker diffamierte, vielleicht eine Überraschung sein. In Strassburg widerfährt auch Wanda Gąsior Gerechtigkeit, die von einem polnisches Gericht der Diffamierung von Zbigniew Wassermann beschuldigt wurde, den sie einen Betrüger genannt hatte, da er ihrem Schwiegersohn für eine ausgeführte Arbeit (er hatte unter anderem die berühmte Wanne mit Hydromassage eingebaut) nicht bezahlt hatte.

Abtreibung, Schwule, Ethik

Der Fall Alicja Tysiąc, der man einen legalen Schwangerschaftsabbruch verwehrt hatte, ohne die Möglichkeit auf Berufung dieser Entscheidung, war wohl das Straßburger Urteil, das Polen am meisten bewegt hat. Das erste, aber nicht das letzte, denn jeden Augenblick kann das Urteil in dem ähnlichen Fall R.R. gegen Polen gefällt werden. In diesem Fall ist eine Frau dazu gezwungen worden, ein Kind mit einem genetischen Defekt zur Welt zu bringen. Straßburg hat die polnische Regierung auch über den Fall Agata Lamczak in Kenntnis gesetzt. Um diesen Fall kann es noch lauter werden als um Alicja Tysiąc, denn hier kommt der Verstoß gegen den Artikel zum Recht auf Leben ins Spiel. Bei der 25jährigen Agata war während ihrer Schwangerschaft eine geschwürige Dickdarmentzündung diagnostiziert worden. Obwohl ihr Gesundheitszustand sich drastisch verschlechterte und die Frau über starke Schmerzen klagte, konzentrierten sich die Ärzte hauptsächlich auf die Schwangerschaft. Es wurden keine vollständigen Untersuchungen durchgeführt, weil ihnen ihr Gewissen dies nicht gestattete. Sie waren taub gegen die Forderungen der Mutter und des Verlobten, Agata zu heilen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für das Embryo, und der sich vor Schmerz krümmenden Frau empfahlen sie, dass sie sich lieber um ihr Kind als „um ihren eigenen Hintern“ kümmern solle. Nach vier Monaten Qual starb Agata. Der Fötus war vorher abgestorben. 

Das Urteil im Fall Tysiąc gegen Polen ist in die internationale Rechtsprechung eingegangen. Kürzlich wurde in einem Fall gegen Irland berufen. Der Gerichtshof empfahl Polen, einen Rechtsweg herzustellen, der es gestattet, gegen eine ärztliche Entscheidung Berufung einzulegen, und tatsächlich ist eine solche Verordnung ins Leben gerufen worden. Laut Wanda Nowicka, der Chefin des Bundes für Frauen und Familienplanung, sei sie jedoch unklar, nicht schlüssig und erst die Zukunft würde zeigen, wie sie sich in der Praxis macht. Das Urteil im Fall Bączkowski und andere gegen Polen, das einen anderen Bereich des ideologischen Streits betrifft, hat Polen seine Praxis tatsächlich geändert. Es handelt sich um das Verbot der Gleichheitsparade 2005 durch den damaligen Präsidenten der Stadt Warschau Lech Kaczyński. Diese Entscheidung hatte er mit Sicherheitsaspekten begründet, während er am gleichen Tag sechs andere Versammlungen gestattete, unter anderem unter den Leitsprüchen: „Gegen eingetragene Lebenspartnerschaften“ oder „Christen, die das Gesetz Gottes respektieren, sind Bürger der ersten Kategorie“. Der Gerichtshof befand einhellig einen Verstoß gegen die Konvention und ließ keinen Zweifel daran, dass sexuelle Minderheiten das Versammlungsrecht in Anspruch nehmen dürfen. „Seitdem wurden keine Parade und kein Marsch verboten, obwohl es immer mehr werden“, räumt Yga Kostrzewa von der Stiftung Lambda ein, einem der Kläger. „Wir wollten keine Entschädigung, sondern die klare Botschaft, dass Polen sich an die Menschenrechte halten muss. Für uns hat dieses Urteil nicht nur praktische, sondern auch symbolische Bedeutung.“ 

Auf Verhandlung wartet in Straßburg ein anderer Fall bezüglich homosexueller Personen: Kozak gegen Polen. Der Gerichtshof soll prüfen, ob der Kläger das Recht hat, die Sozialwohnung von seinem verstorbenen Partner als Mieter zu übernehmen. Der Streit um den Ethikunterricht in den Schulen zieht sich seit Jahren hin. Seit Jahren wartet auch in Straßburg der Fall Grzelak gegen Polen auf Prüfung. Das Urteil wird wahrscheinlich in diesem Jahr fallen. Der Sohn der Eheleute Grzelak hatte, nach dem Willen der Eltern, nicht am Religionsunterricht teilgenommen. Gleichzeitig stellte sich heraus, dass es in der Stadt, in der er wohnte, keine einzige Schule gab, die alternativen Ethikunterricht angeboten hätte. Der Junge verbrachte die Stunden auf dem Korridor oder in der Bibliothek. Aufgrund physischer und psychischer Diskriminierung wechselte er zweimal die Schule. Die Eltern beschwerten sich bei allen möglichen Institutionen in Polen, blieben aber erfolglos. Fällt das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für sie positiv aus, würde das unmissverständlich bestätigen, dass das Recht auf Ethikunterricht in polnischen Schulen fiktiv ist. Eine andere Sache ist, dass das für die Grzelaks keine praktische Bedeutung mehr haben wird. Ihr Sohn wird in Kürze das Abitur abschließen. „Wir haben das zwar hinter uns, aber trotzdem ist die Sache für mich sinnvoll“, erklärt Czesław Grzelak. „Andere Kinder sind in der gleichen Situation, vielleicht werden meine Enkel auch in diese Situation kommen. Außerdem geht es mir darum, dass die Konstitution nicht mit Füßen getreten wird.“

Womit wir zu kämpfen haben

Adam Bodnar ist der Meinung, dass dank der Straßburger Fälle zu sehen ist, welches Land mit welchen Problemen zu kämpfen hat. In Frankreich und Italien sind das vor allem Fragen, die mit Emigranten zu tun haben, in Tschechien und Slowenien das Romaproblem, in Bulgarien ist es die Gewaltanwendung der Polizei. „Bei uns ist es der übermäßige Einfluss der katholischen Kirche auf die öffentliche Sphäre, oder genauer gesagt, die Haltung von Politikern, die sich ihr fügen, um keine Wähler zu verlieren.“
Seit der Ratifizierung der Konvention haben Polen über 34.000 Beschwerden beim Straßburger Gerichtshof eingereicht. Das bringt uns den zweiten Platz nach Russland ein. Nimmt man die Zahl der derzeit verhandelten Fälle hinzu, sind wir auf dem sechsten Platz, unter anderem nach Russland, der Türkei und der Ukraine. Die Mehrheit der Klagen wird abgelehnt, weil sie die formalen Grundbedingungen nicht erfüllen (Termine sind abgelaufen oder der innerstaatliche Instanzenzug ist nicht durchlaufen worden). Nur 7 Prozent der Polen nehmen bei der Antragstellung Hilfe in Anspruch. So oder so wird der Europäische Gerichtshof bei uns als eine Art vierte Instanz verstanden.

„Einerseits wird er von den Bürgern als ein letzter Rettungsring wahrgenommen, andererseits als Druckmittel“, sagt Monika Gąsiorowska. „Ich kenne Fälle, da hat der Richter noch nicht einmal die Begründung für das Urteil fertig verlesen, da stürmt man schon aus dem Saal und droht mit Straßburg.“ Laut Bodnar kommt der Mythos Straßburg in Polen auch von dem Misstrauen der Bürger gegen den Staat. Gegen Polen in Straßburg zu gewinnen ist eine echte Genugtuung. Eine andere Sache ist, dass die polnische Rechtsprechung das unterstützt. Schlechte Vorschriften und rechtliche Schludrigkeiten vergrößern die Zahl der Klagen. „Straßburg ist nicht dazu da, große Probleme zu lösen“, sagt er. „Seine Urteile zeigen, wo es im Rechtssystem knirscht, was es zu ändern, zu regulieren gilt. Man kann vielleicht sagen, dass es das System tunt. Es schafft Rechtsbegriffe und -standards, auf die man sich berufen kann.“

Dank des Europäischen Gerichtshofes wurden zumindest die Vorschriften in den Ausnüchterungszellen geändert. Es wurde eingeführt, dass man gegen überlange Verfahrendauer klagen kann, es wurde auch die Frage des Besitzes in den ehemaligen Ostgebieten geklärt. Aber eine Menge an weiteren Fällen steht in der Warteschlange nach Entschädigung. Nicht nur die Lustration, sondern auch die Frage der Rechte geschiedener Eltern, die ihr vom Gericht zuerkanntes Recht auf Kontakt mit den Kindern nicht geltend machen können. Zum Präzedenzfall könnte der Fall Moskal gegen Polen werden. Die Frau klagte, da sie von der Staatlichen Sozialversicherung (ZUS) zunächst fälschlicherweise Leistungen zuerkannt wurden, die man ihr dann von einem Tag auf den anderen wieder strich. Das Straßburger Urteil befand, dass der Staat das Vertrauen der Frau verletzt und sich unvorhersehbar verhalten habe, und dass ein Bürger das Recht auf eine gut funktionierende Verwaltung habe. Es gibt circa 150 ähnliche Fälle. Bahnbrechend wird auch das Urteil im Fall Kędzior gegen Polen sein, in dem es um Entmündigung geht und von dem Polen bereits in Kenntnis gesetzt wurde. Solche Fälle gibt es immer mehr und es sieht danach aus, dass Entmündigungen bei uns zu einem praktischen Werkzeug geworden sind, das der Familie gestattet, sich eines unliebsamen Familienmitgliedes zu entledigen. Das Urteil könnte die obligatorischen Verfahren in Frage stellen.

„Ich vermute, dass bald auch Fälle zur Gewalt gegen Frauen in Straßburg landen werden. Es gibt bereits den Präzedenzfall Opuz gegen die Türkei, in dem das Opfer häuslicher Gewalt vom Staat keinen Schutz bekommen hat und weiter malträtiert wurde. Ähnliche Fälle gibt es in Polen viele. Früher oder später wird es auch Klagen geben gegen das Kruzifix in staatlichen Institutionen“, sagt Adam Bodnar voraus.

Die in Straßburg verlorenen Fälle haben fatale Auswirkung auf das Image des Landes, deshalb einigt sich die polnische Regierung immer häufiger mit den Klägern. Bei offensichtlichen Fällen, bei denen eine Niederlage sicher ist, aber auch in solchen, zu denen sie Medienrummel vermeiden will. Eine andere Sache ist, dass das mit dem Medienrummel ganz verschieden ist. Nur wenige Fälle gelangen an die Öffentlichkeit. Manchmal weiß ein Beamter, der tatsächlich schuldig war, noch gar nicht, dass ein Urteil gefällt wurde. Schließlich wird der Staat angeklagt und zahlt für diesen Fehler. Und die Medien schreiben nicht, dass Polen wieder verloren hat. Schließlich verliert es ständig, was sind das schon für Nachrichten.


Mithilfe Agnieszka Mazurczyk

***

47 Richter

Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, von den Mitgliedstaaten des Europarates ausgearbeitet, wurde 1953 uns Leben gerufen. Auf dieser Grundlage wurde der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einberufen, bei dem Beschwerden von natürlichen Personen, Personengruppen, Organisationen sowie beteiligten Staaten eingereicht werden können. Polen hat die Menschenrechtskonvention 1993 ratifiziert. Die Parteien der Konvention sind die Mitgliedsstaaten des Europarates. Weil jedes Land das Recht auf einen Richter hat, zählt der Gerichtshof 47 Mitglieder. Polen wird von Professor Lech Garlicki vertreten. Die erste Beschwerde, die Polen betraf, wurde 1997 in Straßburg geprüft. Sie endete mit einem Vergleich. Bisher sind 34.000 Beschwerden beim Gerichtshof eingereicht worden. Den Rekord hält die Summe (Entschädigung über 60.000 Euro plus 22.500 Euro Wiedergutmachung) im Fall Hutte-Czapska gegen Polen (Ein Fall zur Regulierung von Mieten in Häusern, die in privaten Händen sind). Eine der höchsten Quoten hat auch Alicja Tysiąc erkämpft. Ihr wurden in Straßburg 25.000 Euro Wiedergutmachung und 14.000 Euro Gerichtskostenerstattung zugesprochen. 2008 hat Polen für vor dem Europäischen Gerichtshof verlorene Fälle über 400.000 Euro gezahlt. Hinzu kommen beinahe 170.000 Euro für vereinbarte Vergleiche. Die höchsten Kosten fallen für überlange Strafverfahren an (335.000 Euro in den Jahren 2005-2008).

Wie legt man Beschwerde ein?

Ein Bürger, der der Meinung ist, dass der Staat seine Rechte, die die Menschenrechtskonvention schützt, verletzt hat, kann sich in Straßburg beschweren, wenn der vom innerstaatlichen Gesetz vorgesehene Instanzenzug durchlaufen ist und seit der letzten Entscheidung nicht mehr als sechs Monate vergangen sind. Wenn die Zeit zu knapp ist, sollte ein Schreiben an den Gerichtshof geschickt werden, das darüber informiert, dass man die Absicht hat, Beschwerde einzureichen. Dann wird der Fall registriert und es bleibt mehr Zeit, die Beschwerde tatsächlich einzureichen. Das Musterformular ist an vielen Stellen erhältlich, unter anderem auf der Internetseite der Helsinki-Stiftung für Menschenrechte. Die Beschwerde kann in polnischer Sprache geschrieben werden. Es fallen keine Gebühren an. Auf der nächsten Etappe, wenn der Gerichtshof bei der Regierung Stellungnahmen anfordert, erfolgt die Korrespondenz in einer der Amtssprachen des Gerichtshofes, d.h. auf Englisch oder Französisch. Dann bittet der Gerichtshof auch den Kläger, einen Juristen zu bestimmen, der ihn vertreten wird. Alles wird im Schriftwechsel erledigt. Man muss nicht extra nach Straßburg fragen.

Der Text erschien in der Polityka Nr. 5 vom 27.01.2010 | Übersetzung Antje Ritter-Jasinska | Redaktion: Paul-Richard Gromnitza 

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