1 Maria Janion sucht (in einem kürzlich in der "Gazeta Wyborcza" erschienenen interessanten Essay) die Ursprünge des Antisemitismus in Polen im 11. Jahrhundert. Am Beispiel des Ritualmordmythos versucht sie nachzuverfolgen, wie "der christliche Antijudaismus - in einem ideologischen Transformationsprozess - zum neuzeitlichen Antisemitismus wird". Für dessen Urheber hält sie Stanisław Staszic, der den Polen für zwei Jahrhunderte die Überzeugung einprägte, dass "die Juden die Ursache allen Unheils der polnischen Nation sind" und ihre Religion "das Gebot des Betrugs enthält". Für dessen Dichter hingegen hält sie Zygmunt Krasiński, der in seiner "Un-göttlichen Komödie" eine Art antisemitischen Kanon mit einschloss, der über die früheren Stereotype hinausgewachsen war. Dieser Kanon, meint Prof. Janion, fügte sich in den Entstehungsprozess "des neuzeitlichen Nationalismus auf der Grundlage des feudal-romantischen" ein. Interessante Thesen. Doch die Evolution des polnischen Antisemitismus ist eine noch komplexere Erscheinung.
2 Mit einer jüdischen Frage in Polen haben wir es beinahe seit den ersten Anfängen des Staatswesens zu tun, mit Sicherheit aber seit dem 11. Jahrhundert. Damals bewirkten der Prozess des Erstarkens des Bürgertums in Westeuropa, aber auch der mit den Kreuzzügen einhergehende religiöse Fanatismus, dass, wie Joachim Lelewel schrieb, "wer lebte und sich zu verbergen vermochte, der floh, um in slawischen Landen aufzuatmen und sich in Polen niederzulassen".