Ihre Abneigung füreinander ist nicht auf Neid zurückzuführen, sondern auf ihre entgegengesetzte Faszination von der Kultur des Nachbarn. Reich-Ranicki ist der deutschen Literatur verhaftet, aus der er sein Lebenselixier bezieht, Dedecius dagegen der polnischen. Deshalb ist es gut, dass nun fast zeitgleich die Erinnerungen von Karl Dedecius „Ein Europäer aus Łódź" und Gerhard Gnaucks Buch „Wolke und Weide. Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre" bei uns erschienen sind, die Biographien zweier Grenzgänger und zweier Literaturpäpste an der Nahtstelle zwischen Deutschland und Polen.
Reich-Ranicki sagte 1958 zu Grass, er sei ein halber Deutscher, halber Pole und ganzer Jude. 40 Jahre später war er sich hinsichtlich der Prozentsätze nicht mehr so sicher. Als er zwölf Jahre alt war, schickte ihn seiner Mutter nach Deutschland, damit er in einem „Kulturland" die Schule besucht. Kaum hatte er 1938 in Berlin das Abitur bestanden, wurde er im Herbst unversehens nach Polen deportiert. Und ehe er hier heimisch werden konnte, brach der Krieg aus. Er überstand das Warschauer Ghetto, wo er Übersetzer beim Judenrat war. Anschließend wurden er und seine Frau von der Familie eines arbeitslosen polnischen Setzers versteckt. Nach der Befreiung arbeitete er bei der Geheimpolizei (UB) und beim Auslandsnachrichtendienst in Berlin und London. Nachdem man ihn 1950 aus der Partei geworfen hatte, hielt er sich einige Jahre mit der Veröffentlichung von Skizzen über die deutsche Literatur über Wasser. 1958 blieb er nach einer Reise in Westdeutschland, wo er als Literaturkritiker eine atemberaubende Karriere machte. Sein „Literarisches Quartett" war eine der populärsten Fernsehsendungen.