Unsere Stimmungsschaukel zu den verschiedensten Jahrestagen kann einen regelrecht schwindlig machen. An einem Samstag besiegen wir auf den Fernsehbildschirmen die Bolschewiken, am nächsten Samstag lächelt Stalin jovial Ribbentrop zu. Am Montag den 31. August platzen wir vor Stolz, weil die Solidarność das Ende des Kommunismus eingeleitet hat. Aber schon am Dienstag, den 1. September, ist uns die Kehle wie zugeschnürt. Das ist eine bedingte Reaktion auf den Anblick der uns von Kindheit an bekannten Bilder: Beschuss der Westerplatte, Bombenregen auf Warschau, die aufgebrochene Grenzschranke. Untersuchungen besagen, dass wir davon überzeugt sind, dass im 20. Jahrhundert - in dem schrecklichsten Jahrhundert der europäischen Geschichte - Polen ein Heldenvolk und Opfer der Angriffe seiner Nachbarn und des Verrats von Verbündeten war. Gleichzeitig haben wir Schwierigkeiten damit, beschämende Tatsachen anzuerkennen: das Großmachtsgehabe vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, das Chaos während der Septemberkampagne, Denunziation während der Okkupationszeit, Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Juden, ganz zu schweigen von Jedwabne. Nach fast einem Jahrzehnt der nationalen Offensive in der historischen Politik ähnelt unser kulturelles Gedächtnis einem sorgfältig konservierten Nachtragen. Es ruft nicht gerade zu kritischer Reflexion über die Fehler der Politik der Vorkriegszeit auf, die so fatal Verlust und Gewinn gegeneinander aufgerechnet hat. Der Stereotyp des polnischen Opfers, „das Europa errettet hat", wird häufig von der Moralvorstellung von Sienkiewicz' Figur Kali begleitet: Der ukrainische Kampf um einen eigenen Staat ist Banditentum, während die Schlesischen Aufstände nach dem ungünstig ausgefallenen Plebiszit korrekt sind.
Der polnische September - der Jahrestag des Ausbruch des II. Weltkrieges - hat relativ überraschend politischen Charakter und internationale Bedeutung gewonnen. Wieder sind Kontroversen in der Bewertung dieses historischen Momentes aufgetaucht, die längst erloschen schienen.
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